Mit zunehmendem Alter sah Hanne Darboven aus wie nicht von dieser Welt. Ein Geschöpf, das einem Fantasy-Roman entstiegen zu sein schien: Sie war groß, schmal und sehr blass, hatte lange, dünne Arme und feingliedrige Hände. Ihr Blick konnte eisgekühlt und abweisend sein, ihre Stimme klang kontrolliert. Sie sprach in einer seltsam steifen Art. Auf die Frage im nach Marcel Proust benannten FAZ-Fragebogen, was sie am meisten verabscheue, antwortete sie „Verdummung“ (FAZ-Magazin, April 1982).
Auf Fotos aus Hanne Darbovens Kindheit sieht man ein kleines Mädchen mit weißer Schleife im weißblonden Haar, im weißen Kleidchen mit gesmoktem Oberteil und Puffärmeln und in gehäkelten, weißen Kniestrümpfen. Viel blendendes, makelloses Weiß in grauer Zeit. Hanne Darboven war Kriegskind, geboren 1941. Sie und ihre beiden Schwestern wuchsen abgeschirmt auf dem Familiensitz „Am Burgberg“ in Hamburg-Harburg auf. Die Atmosphäre im Landhaus der Darbovens war durch ihre dänische Mutter Kirsten und ihren weltoffenen Vater, den Kaffeefabrikanten Cäsar Darboven, geprägt. Hanne, der mittleren Tochter, galt seine große Sorge. Sie hatte nach einem Zeckenbiss eine Gehirnhautentzündung davongetragen. Die Folge war eine Epilepsie, die trotz mehrerer Klinikaufenthalte und der drastischen Behandlungsmethoden in den 1950er Jahren noch nicht heilbar war und erst viele Jahre später medikamentös behandelt werden konnte.
Das reservierte, stille Kind mit Prinz-Eisenherz-Frisur besuchte den musischen Zweig der Waldörfer-Schule in Hamburg-Volksdorf und hatte kaum Kontakt zu anderen Kindern. Jeden Morgen wurde es vom Chauffeur des Vaters zur Schule gefahren, jeden Mittag wieder abgeholt. Eine Mitschülerin berichtet: „Wenn Hanne sich neben mich setzte, rochen ihre Kleider nach Kaffee. Sie trug Lambswool-Pullover mit V-Ausschnitt, Schottenrock, Seidenstrümpfe und Ballerinas, sehr damenhafte Kleidung. Für uns ungewohnt konservativ und erwachsen. Aber was andere über sie dachten, schien Hanne wenig zu kümmern.“ (VB S. 39) Wegen ihrer fragilen Konstitution und schlechter Noten wurde Hanne für drei Schuljahre auf ein Internat in den Schwarzwald geschickt. Ihr Abitur legte sie 1962 in ihrer alten Schule in Hamburg ab. Nach den Prüfungen lud sie ihre Klassenkameraden zu sich nach Hause ein. Ihrer Mitschülerin ist das Fest so in Erinnerung geblieben: „Der Abend verlief furchtbar steif. Eine Haushälterin servierte Wildschwein in Aspik, kalt, glibberig und grau. Man erzählte uns, die jüngste Tochter der Darbovens hätte das Tier auf der Jagd ihres Vaters selbst geschossen.“ (VB 39) 1962 begann Hanne Darboven ein Kunststudium an der Hochschule der Künste in Hamburg. Die verschlossene Studentin, die kein Wort sprach, erkannte schnell, dass die Arbeitsaufträge ihrer Professoren sie nicht weiter brachten und sie ihren eigenen Weg gehen musste. Nach 5 Semestern brach sie ihr Studium ab und ging nach New York, das nach dem Ende des 2. Weltkriegs zum Zentrum der modernen Kunst geworden war. Am 2. April 1966 trat sie auf dem Dampfer Stratendam der Holland-Amerika Linie in Begleitung ihrer Mutter die Reise über den Atlantik an. Ein Schwarz-Weiß Foto zeigt die beiden Frauen beim Betreten des Schiffes in Rotterdam. Voran die mit feiner Andeutung lächelnde Tochter, sehr elegant mit einem kinnlang gestuften Bob und kurz geschnittenem Pony, im hellen Trenchcoat und einem langen Nerzschal um die Schultern gelegt, gefolgt von der matronenhaften Mutter in Hut und Mantel. Zur Reisegruppe gehörte auf Wunsch des Vaters eine dritte Person, der Neurologe und Spezialist für Epilepsieerkrankungen Dr. Dreyer, der Hanne Darboven auf der Überfahrt betreuen und ihre weitere medizinische Versorgung in den USA organisieren sollte.
Upper East Side in Manhatten
In New York blühte Hanne Darboven auf. Sie bezog ein Apartment in der Upper East Side und suchte sich einen Agenten, der ihr Kontakte zu Galerien verschaffte. Sie begann, sich zu vernetzen und ihre künstlerische Entwicklung voranzutreiben. Ihren braven Höhere-Tochter-Look legte sie ab und trug Jeans-Overalls, T-Shirts und Sneakers. Anfang 1968 erhielt sie die Nachricht aus Hamburg, ihr Vater sei an Lungenkrebs erkrankt. Sie flog nach Hamburg, um in seiner Nähe zu sein und sich an seiner Pflege zu beteiligen. Der Tod des fürsorglichen Familienoberhauptes ließ seine Tochter verunsichert zurück. Sie löste ihre New Yorker Wohnung auf und zog wieder in ihr Elternhaus ein. In einem Brief schrieb sie über die hinter ihr liegenden Monate in New York: „ – diese Zeit war es wohl.“ (HD Korrespondenz 1967-1975, S. 78) Ihren neuen Arbeitsplatz richtete sie sich am Schreibtisch ihres Vaters im „Herrenzimmer“ des alten Fachwerkhauses Hamburg-Harburg ein. Dort blätterte sie durch die Seiten ihres kleinen, in Leder gebundenen Taschenkalenders und entwickelte ein eigenes System zur Darstellung der Zeit. Sie schrieb Jahreszahlen, Tages- und Monatsdaten und deren Quersummen nieder. Auf diese Weise bildete sie in den folgenden Jahren penibel Jahre, Jahrzehnte und schließlich ein ganzes Jahrhundert ab. Es bestand aus endlosen Zahlenkolonnen auf 1400 Blättern.
In Hamburg entschloss sich Hanne Darboven zu einer radikalen äußeren Veränderung. Die hanseatische Kaufmannstochter lehnte es ab, sich für den männerdominierten Kunstbetrieb aufzuputzen und anzubieten. Sie wollte kein erotisches Objekt sein, das man ausstellt, damit es Aufmerksamkeit erzielt. Sie wollte einzig und allein durch ihre Kunst überzeugen. Sie ließ ihr schulterlanges Haar beim Herrenfriseur Schöpf zu einem Herrenschnitt kürzen und erteilte dem renommierten Hamburger Herrenschneider Frech, der schon ihren Vater eingekleidet hatte, den Auftrag für eine praktische Herrengarderobe. Sie bestand aus zwanzig Teilen: ein Mantel, eine Jacke und vier Anzüge. Es waren klassische, dunkelblaue Dreiteiler aus Flanell, drei mit Nadelstreifen, einer mit dezentem Karomuster. Die Hosen hatten ein weites Bein und einen weiten Bund. Gehalten wurden sie von breiten britischen Hosenträgern, die an den Hosenbund angeknöpft wurden. Ein Gürtel wäre nicht in Frage gekommen. Hanne Darboven mochte nichts, das einengte. Zu ihren Garnituren ließ sie sich sechs Hemden nähen. Drei Hemden hatten ein kariertes Muster, drei bestanden aus Jeansstoff. Ihre „hannekleidung“, wie sie sie nannte, verstand sie als Befreiung, die ihr auf Grund ihrer Reduktion ihren Alltag erleichterte und ihr die Möglichkeit eröffnete, sich ganz auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Ihre in mehreren Lagen übereinander geschichteten, hochgeschlossenen Dreiteiler dienten der Künstlerin auch als Maske ihrer komplizierten Psyche, in der sie kühl und überlegen auftreten konnte. Es war die Rüstung einer jungen, international zunehmend anerkannten Künstlerin, die jedoch unsicher war. Ihre Herrengarderobe trug sie im Frühling, im Sommer, im Herbst und im Winter. Bis an ihr Lebensende. Zu Vernissagen, zu ihren Tangoabenden oder zu Soireen auf dem Burgberg, zu denen sie eine Sinti-Kapelle aus dem benachbarten Wilhelmsburg aufspielen ließ, erschien sie in einem Cut, wie ihr Vater ihn zu Empfängen und Banketten getragen hatte. Dazu trug sie einen Ring mit einem großen, blauen Lapislazuli auf dem Mittelfinger ihrer linken Hand. Ihre Tagesanzüge garnierte sie mit modernem, tiefstapelndem Schmuck: Ketten mit bunten Holzperlen, meist mehrere in unterschiedlichen Längen oder eine überlange Gliederkette, an der sie ihre Armbanduhr befestigte. Sie dort locker baumeln zu lassen anstatt ihr Handgelenk damit einzuschnüren, empfand sie als Wohltat. Für ihre Schuhe galt: Hauptsache bequem. In flachen Schuhen stöckelte sie nicht wie andere Frauen, sie schritt. Ihre Vorliebe für Praktikabilität zeigt sich auch an ihren ärmellosen Westen. Die immer leicht Fröstelnde trug sie als bestickte Wildlederweste mit Pelzeinfassung, als klassische Herrenweste passend zum Anzug oder als einfache Beuys´sche Anglerweste mit vielen kleinen aufgenähten Taschen, an die sie ihre Buttons heftete. Sie sammelte diese kleinen, runden Anstecknadeln aus Plastik, deren Slogans als Ausdruck von politischen Statements und Protest in den 60er Jahren populär waren.
Ihre dandyhaften Outfits verliehen der Künstlerin einen Reiz, der seine Wirkung auf Männer nicht verfehlte. Von ihr selbst gibt es keine Äußerungen über ihr Privatleben. Doch war es in den engen Zirkeln der Kunstszene, in denen jeder jeden beobachtete, ein offenes Geheimnis, dass die Frau, die in ihrem Arbeitsalltag mönchische Schreibakte vollbrachte, schwärmerisch war und sich schnell verliebte. Die Ehe war jedoch nicht das Lebensziel der finanziell unabhängigen Künstlerin. Die Beziehung zu dem Antwerpener Diamantenhändler Isi Fiszman, der sie heiraten wollte, gab sie auf. Sie wollte frei sein. Frei von den muffig-abgestandenen Regeln für Ehefrauen, frei von familiären Verpflichtungen, frei für ihre Arbeit.
Auf dem Burgberg in Hamburg-Harburg
Hanne Darbovens Hamburger Zuhause war ein kleines Königreich für sich. Neben dem alten Fachwerkhaus ließ sie als Reminiszenz an New York den „Turm“ bauen, ein Mini-Hochhaus mit einer Freiheitsstatue davor. Dazu kam ein Studio mit gläsernem Dach, das ein großes Holzpferd beherbergte, das sie sich vom Tischler anfertigen ließ. 2007 ließ sie ein Gebäude für ihre Sammlung von Vogelkäfigen und Holzmodellen an den „Turm“ anbauen. 2009 wurde ein letztes Gebäude im Garten errichtet, das als Lager geplant war. Insgesamt nutzte sie 8 Gebäude. Der kleinste und bescheidenste Raum aber blieb unverändert: ihr Schlafzimmer. Eigentlich ist es nicht mehr als eine Kammer, kahl, spärlich möbliert, mit weiß gestrichenem Holzboden, einem weiß lackierten Holzbett und einem Korbhocker, den sie als Nachttisch benutzte. An der Wand die Kopie eines Stiches von Dürer. Mehr brauchte sie nicht. Ihre Garderobe befand sich im Nebenraum, der auch als Gästezimmer genutzt wurde. Darin ein schmaler Schrank mit ihren Anzügen, ein schmaler Schrank mit ihren Hemden und eine Kommode mit Schuhen. Auf dem Burgberg lebte sie umsorgt von ihrer Mutter, Hausangestellten und Sekretärinnen. Wohlbehütet und immer scharf am Abgrund. Mindestens genauso wichtig wie die sie umsorgenden Menschen waren ihre Tiere. Sie hatte ein inniges Verhältnis zu ihnen und betrachtete sie als Familienangehörige. Starb ein Tier, wurde sein Foto in einen silbernen Rahmen gestellt, es wurde ausgestopft und bekam sein eigenes Grab. Auf dem Friedhof ihres Anwesens ist jedes Tier unter einem eigenen Grabstein begraben. Permanent hielt sie sich zwei schneeweiße Ziegen und einen Kanarienvogel. Der ersten Ziege gab sie den Namen „Micky“. Alle weiteren nannte sie ebenfalls „Micky“ oder Varianten von „Micky“, wie „Großmutter Micky“, „Mama Micky“, „kleiner Micky“. Der Kanarienvogel und alle seine ihm nachfolgenden Wiedergänger hießen „Piephans“.
Hanne Darboven brauchte ihr ganzes Leben lang Ruhe, Reduktion und Routinen. Wurden ihre festen Abläufe gestört, war sie vom Absturz bedroht. Sie arbeitete unermüdlich, wie ein Akkordarbeiter. Wochenenden, Urlaube und Erholungspausen kannte sie nicht. Immer wenn sie eine große Arbeit beendet hatte, hatte sie sich vollständig verausgabt und fühlte sich so geschwächt, als habe man ihr die Haut abgezogen. Oft fiel sie in ein tiefes Loch, manchmal so tief, dass eine Auszeit nötig war. Dazu ließ sie sich in eine Klinik einweisen, um sich zu entgiften und ihre Medikation neu einstellen zu lassen. Zu Hause am Burgberg hängte jeden Freitagabend der Zigarettenhändler eine weiße Plastiktüte mit 17 weiß-grünen Packungen Reyno Menthol an die Tür und nahm im Gegenzug das Geld vom Küchentisch, das für ihn hinterlegt war. Benötigte sie ein Taxi, rief sie immer denselben Taxifahrer an, weil sie in seinem Wagen rauchen durfte. Zu den unwandelbaren Rhythmen ihres Lebens gehörte, dass sie Jahr für Jahr im Frühjahr und im Herbst für zwei bis drei Wochen nach New York flog – mit der Concorde, weil sie so nur kurz auf ihre Zigaretten verzichten musste. Im Gramercy Park Hotel bewohnte sie stets dasselbe Zimmer und rief von dort täglich immer zur selben Zeit bei ihrer Mutter in Hamburg an. In New York wie in Hamburg umgab sie sich mit den immer gleichen Menschen. Sie trug die immer gleiche Garderobe, deren abgetragene Teile sie zwei- und dreifach in genau demselben Schnitt und Stoff von Schneidermeister Frech nachnähen ließ und so nach und nach ihren Bestand auf zwanzig Garnituren aufstockte.
Am Ende ihres Lebens war Hanne Darboven pflegebedürftig. Eine Krebserkrankung schwächte sie zunehmend. Im März 2006 stellte sie Jörg Weil als ihren Krankenpfleger ein. Er wurde ihr Assistent und Vertrauter. Mit ihrer einfachen, randlosen Brille sah sie nun aus wie ein Mönch. Ihre Westen mit den Buttons trug sie nicht mehr, sie waren ihr zu schwer geworden. Äußerliches war ihr nicht mehr wichtig. Es ging um die Konzentration auf das Eigentliche. Dazu kommentiert Jörg Weil: „Wenn ich mir heute späte Fotos von Hanne anschaue, sehe ich eine Frau, die alle Weiblichkeit abgelegt hat. Ich sehe einen Menschen, der nur noch Mensch sein will. Der für seine eigene Radikalität, mit der er selbst mit sich und anderen umgegangen ist, jedoch auch einen sehr hohen Preis gezahlt hat.“ (VB 188)
Hanne Darboven ist am 9. März 2009 verstorben. Man kleidete sie in einen Dreiteiler von Schneidermeister Frech. Ihr Urnengrab befindet sich auf dem Anwesen am Burgberg, umgeben von den Grabsteinen ihrer engsten Vertrauten. Ihren Lieblingstieren: „Mein Micky“, „Wurtzy“, „Piephans Nr 1“, „Piephans Nr 2“ und „Papa Piephans“.
Foto: Cerstin Henning