Helen Hessel: Aufgeknöpftes Männerhemd, Proust in der Hosentasche, knallroter Lippenstift

Ihr Name sagt uns heute nicht mehr viel, und wenn doch, denken wir eher an ihr unorthodoxes Leben als an ihre Arbeit. Für viele ist sie einfach Kate, die Frau aus dem amourösen Trio in Francois Truffauts Kultfilm, die Jules und auch Jim liebte. Doch Helen Hessel war so viel mehr als die Vorlage für eine Filmfigur.

Helen Hessel wurde 1886 in Berlin geboren. Ihre Familie ist wohlhabend. Man leistet sich Dienstboten und eine Gouvernante, die mit den 5 Kindern englisch spricht. Helen ist das Nesthäkchen und kann ihren Vater um den kleinen Finger wickeln. Er spielt gerne Klavier. Eigentlich ist er Bankier und später ein melancholischer Bankrotteur. Mit 16 Jahren verlässt Helen für längere Zeit das Elternhaus. Sie unternimmt eine erste große Auslandsreise nach London, wo ein Teil ihrer Familie lebt. Sie möchte – Obacht! – Malerin werden und meldet sich an der Damenakademie des Berliner Künstlerinnenvereins an, wo sie im Atelier von Käthe Kollwitz studiert. Und verliebt sich – Obacht! – im Rahmen einer Sommerakademie in ihren 30 Jahre älteren Lehrer. Das unkonventionelle Paar wird einige Jahre zusammen leben, bis sie sich entschließt, nach Paris zu gehen.

„In einer Ehe muss wenigstens einer treu sein. In unserem Fall er.“

Im Quartier Latin zieht die kultivierte Berlinerin alle Blicke auf sich. Mit Männern ist sie mindestens auf Augenhöhe. Sie raucht Zigarren, kann schießen, boxen, reiten und ausgezeichnet schwimmen. Am liebsten im Meer. Je kälter, desto lieber. Im Café du Dome am Boulevard Montparnasse lernt sie Franz Hessel kennen, einen deutschen Schriftsteller jüdischer Abstammung. Er ist klein und dicklich, etwas schüchtern, aber ausgesprochen geistreich. Dazu wohlhabend, was nie schadet. Er wirbt um die schöne Malerin, zeigt ihr „sein“ Paris und stellt ihr seinen besten Freund vor. Henri-Pierre Roché, Pariser Kunstsammler und Schriftsteller, groß, schlank, sagenhaft attraktiv. Die beiden äußerlich so ungleichen Männer sind unzertrennlich. Sie teilen die Liebe zur Literatur, zu den jungen Künstlerinnen und zu Helen. Sie entscheidet sich für Hessel, aber man kann nicht sagen, dass sie ihn nicht gewarnt hätte. „Du hast viel Mut, ich bin weder treu, noch nützlich, und ich habe kein gutes Herz“, schreibt sie ihm. Die Ehe betrachtet sie ganz pragmatisch. Hessel ist ein großzügiger Mann. Er bietet ihr eine Verbindung, die ihr eine lebenslange Versorgung und damit Sicherheit garantiert. Dafür bittet er sie darum, sein ungebundenes Schriftsteller-Leben nicht aufgeben zu müssen. Die Aussichten des Paares scheinen rosig. Sie werden ein sorgloses, voneinander unabhängiges Leben führen, nach Lust und Laune durch die Welt reisen, Dienstboten haben. Sie wird ihn um den Finger wickeln. Das von ihr eingeführte Gesetz lautet: „In einer Ehe muss wenigstens einer treu sein. In unserem Fall er.“

Kaum sind die Zukunftsvisionen formuliert, schon kracht das Kartenhaus zusammen. Mit dem Ausbruch des ersten Weltkriegs, in dem sich Frankreich und Deutschland als feindliche Nationen bekämpfen, gelten die frankophilen Hessels in Paris als unerwünschte Ausländer und müssen das Land verlassen. Sie gehen zurück nach Berlin, beziehen eine große Wohnung am Tiergarten und ein Landhaus südlich von München. Doch schon bald wird der verträumte Hessel als einfacher Frontsoldat eingezogen, aus dem er fünf Jahre später als „lebendiger Leichnam“ zurückkehren wird. Nach Hause in die bayerische Provinz, wo Helen inzwischen zwei Söhne zur Welt gebracht und sich ansonsten schrecklich gelangweilt hat. Der ältere von ihnen, Ulrich, hat eine körperliche Behinderung. Eine Woche, bevor Franz Hessel eingezogen wurde, ist er auf die Welt gekommen. Eine schwierige Geburt, das Kind muss mit der Zange geholt werden. Eine halbseitige Lähmung und eine Epilepsie sind die Folge. Helen setzt viel daran, ihren Sohn zu fördern, doch nach der Geburt ihres zweiten Sohnes Stephan konzentriert sie ihre ehrgeizigen Pläne lieber auf ihn.

Eine große, lähmende, alles umfassende Unausgefülltheit liegt in dieser Zeit über ihrem Leben. So groß, dass sie ihrem Mann erklärt, daraus nur entrinnen zu können, wenn sie etwas radikal Neues wagt. Unter ihr Leben als Malerin hat sie längst einen Schlussstrich gezogen. Ihre Begründung: „Rahmen: auch ihretwegen hasse ich die Malerei.“ Sie geht auf ein Landgut nach Ostpreußen, um sich als Landwirtin ausbilden zu lassen. Sie lernt melken, jagen, Vierspänner zu lenken und wie es ist, eine Liaison mit einem viel älteren Landjunker zu haben. Nach 6 Monaten ist sie wieder zu Hause. Ihre Zukunft sieht sie jetzt als Schriftstellerin und startet sogleich erste Schreibversuche mit Aphorismen. In seinem Tagebuch urteilt ihr Mann: „Hochbegabt, aber chaotisch, unordentlich, sie bringt kaum etwas zu Ende, von dem, was sie anfängt.“

Da hat Franz Hessel eine Idee. Er lädt Besuch ein, seinen alten Pariser Freund Henri-Pierre Roché. Es wird Zeit, dass sich die beiden Männer endlich wiedersehen, und es wird für Abwechslung im Alltag der Familie sorgen. Womit er nicht gerechnet hat: Helen Hessel und Roché verlieben sich ineinander. 13 Jahre lang wird Helen eine leidenschaftliche Beziehung zu dem strahlenden Lebemann unterhalten, inklusive heftigster Eifersuchtsszenen, einer Scheidung, eines Umzugs nach Paris, dreier Abtreibungen, weil Helen ihm den von ihm ersehnten Stammhalter schenken möchte, den er dann doch nicht haben will, einer unterschlagenen Ehefrau plus Sohn und einer Wiederverheiratung mit Hessel. Nicht zu vergessen eines Filmes von Truffaut, zu dem Rochés Roman „Jules und Jim“ den Regisseur inspiriert hat. Roché hatte mit dem Buch seiner Männerfreundschaft mit dem duldsamen Hessel ein Denkmal setzen wollen.

Die Pionierin des deutschen Modejournalismus

Helen Hessel verfügte über gute Kontakte zu den Schlüsselfiguren der deutschen Kunstszene. 1924 erhielt sie das Angebot, als freie Mitarbeiterin in der monatlichen Beilage „Für die Frau“ in der Frankfurter Zeitung die Moderubrik zu schreiben. Schnell erwarb sie sich einen Ruf als Autorin, die einen originellen Blick hat und eigenartig, ja verblüffend formulieren kann. Hüte waren nicht einfach Hüte, sondern „Schneckengewinde“, „abendlicher Turban aus drei Tönen gewachster Peau d´Ange“ oder „Federkäppchen in Form eines Vogels, dessen Schnabel genau über der Stirn liegt und dessen Schwanzfedern sich über die Locken des Hinterkopfes breiten“. Wenn sie Musseline, Organdi oder Atlasseide beschrieb, konnte die Leserin fühlen, wie der Stoff sich bauschte und hören, wie er knisterte und raschelte.

Bald bot man ihr eine gut dotierte Festanstellung als Modekorrespondentin in Paris an. Sie sollte für das Feuilleton „leichte und vergnügliche Sachen“ über das Pariser Leben und vor allem über die Mode schreiben. „Die Aussicht, durch spaßige Dinge indépendance zu gewinnen, fascinates me. I could go to Paris quasi businesslike“, frohlocket sie in dem für sie typischen Mix aus den drei Sprachen, die sie fließend beherrschte. Anders als diese Formulierung vielleicht vermuten lassen könnte, ging sie ihre neue Tätigkeit mit Professionalität und Zielstrebigkeit an. 1925 zog sie mit ihren Kindern in die französische Hauptstadt. Sie war jetzt eine berufstätige Frau und verdiente ihr eigenes Geld. Mit Rochés Hilfe fand sie eine Wohnung in einem Gebäude im Bauhaus-Stil mit Aufzug in der Rue Ernest Cresson im 14. Arrondissement. Sie bestand aus zwei Teilen. Zwei Zimmer für ihre Söhne und die Kinderfrau, zwei Zimmer für sie, Roché und ihren zwischen Berlin und Paris pendelnden Mann – eine für die Zwanziger Jahre ungewöhnliche Konstellation. Sie ließ ein Badezimmer einbauen, ihr Arbeitszimmer mit einem Teppich ihrer Freundin Sonia Delaunay ausstatten und Möbel anfertigen. „Würfelformen in vielen Farben, sehr schön anzusehen und sehr unbequem“, wie ihr Sohn Ulrich später schreiben wird.

Als Reporterin der bekanntesten deutschen Tageszeitung hatte Helen Hessel Zugang zu allen gesellschaftlichen Milieus. Ihre Beobachtungen in Restaurants, Schönheitssalons, auf der Pferderennbahn oder beim Tennisturnier in Roland Garros verdichtete sie zu inhaltlich vielschichten Beiträgen. Darin stellt sie die Stadt, ihre Bewohner und typische Gebräuche vor, zu denen der Austausch des Doppelkusses bei Begrüßungen zählt, „… diesen Kuß auf die Wangen, den man als Kind gelernt haben muss, um ihn so taubenlieb auszuführen, so unbeteiligt, so manövergewandt – da wird es still.“

Ihre strengen Kritiken der Modenschauen in den Couturehäusern machten sie zu einer Autorität unter den Modejournalisten. Mode interpretierte sie als Ausdruck des Zeitgeists und Hinweis auf kommende politische und soziale Wandlungen. Sie warf einen desillusionierenden Blick hinter die Kulissen des Modemilieus und schilderte die miserablen Arbeitsbedingungen hinter den Fassaden der eleganten Couturehäusern, in denen nicht nur der Couturier Jaques Worth seine Mannequins wie Vieh behandelt. „Er legt den Hauptwert auf den Gang, gleich danach auf die Feinheit der Gelenke und den reinen Teint der Haut.“ Sie selbst äußert Respekt vor diesen hart arbeitenden Frauen, deren Erschöpfung am Ende jeder Saison augenfällig ist. „Ihre Bewegungen erschien mir plötzlich von fataler Affektation, ich bemerke die entstellenden Impfnarben, einen rasselosen Daumen, den Goldzahn der einen, die ungeschminkte Müdigkeit in den Augen der anderen, die verfärbte Strähne der dritten und eine spröde Stelle im Mundwinkel der nächsten.“

Hessel entwickelte die Rubrik „Die elegante Frau trägt“, in der sie ihre Leserinnen mit den Stilgesetzen der Pariserin vertraut machte, die sich in ihren Augen wie keine andere darauf verstand, die Mode zu ihren Gunsten einzusetzen – vorausgesetzt, sie oder der Herr Gemahl verfügte über die dazu nötige Solvenz. Die Modereporterin selbst schien sich Moden zu verweigern. Sie kultivierte mit ihrem sportlichen, androgynen Stil eine Antimode, mit der sie sich in Differenz zu der Welt setzte, über die sie schrieb. Ein schlichtes Männerhemd, eine Krawatte, eine einfache Hose und dazu ihr blonder Bob. Sie brauchte nicht viel, um gut auszusehen und ihrer Souveränität Ausdruck zu verleihen.

Die Journalistin redete nicht um den heißen Brei herum. Über die in Scharen anreisenden Dollarprinzessinnen, in ihren Augen allesamt Amateurinnen der Ästhetik, gab sie ein vernichtendes Urteil ab: Mit einem Hauch von Schadenfreude beschrieb sie ihr Aussehen als „Menschenfresserinnen“ mit Goldzähnen, deren prall gefüllte Konten in Kontrast zu ihrer gänzlich fehlenden Finesse stünden. „Sie geben sich selten Mühe, Französisch zu lernen, besonders da ihr Akzent die Verständigung doch verhindert.“ Hessels Sympathie gehörte nicht den Luxusgeschöpfen, sondern denen, die sich mit mehr beschäftigten als mit sich selbst. Ihre Präferenz für Frauen, die wie sie selbst ursprünglich nicht dazu erzogen worden waren, einer Arbeit nachzugehen und die der Zerfall der Weltordnung nach dem 1. Weltkrieg zum Broterwerb und zu Experimenten mit neuen Lebensformen zwang, verleugnete sie nicht. So wie für die verarmten russischen Aristokratinnen, die vor der Revolution nach Paris geflohen waren und nun in den Pariser Modesalons ihren Lebensunterhalt verdienten. Oder Madame Margot, eine in ihrer „Glanzzeit tonanagebende Dame der Gesellschaft“, die nun Négligés für verwöhnte Frauen herstellte. Für Frauen wie die, die sie selbst vor der Weltwirtschaftskrise einmal gewesen war. Für ihren schnellen Erfolg hatte sie eine plausible Erklärung parat hat: „Nur eine für die Liebe begabte Frau, die im Luxus gelebt hat, sollte das Recht haben, Wäsche zu entwerfen.“

Die Modereporterin erteilte auch Ratschläge für moderne Frauen, die über Modefragen hinausgingen. Sie propagierte ein neues weibliches Selbstverständnis, um im Machtkampf der Geschlechter den finalen Sieg zu erringen. Der Kampf um Gleichberechtigung konnte auf vielen Ebenen ausgefochten werden. In Hessels Augen zählten zu den weiblichen Machtinstrumenten bewährte Mittel wie Koketterie und Verführung, aber auch die Mode wurde in dieser Schlacht zu einer Waffe, die die kluge Frau gegen die „naturbedingte Polygamie des Mannes“ einsetzen konnte, um für den flatterhaften Gatten begehrenswert zu bleiben, ihn zu betören, zu manipulieren und letztlich dauerhaft an sich zu binden. Eine wichtige Rolle kam der Erziehung junger Mädchen zu selbstsicheren Frauen zu, die sich ihrer Körper bewusst waren. „Gewöhnt sie, Schamhaftigkeiten in Worten zu verachten. Verstecktheiten als Muffigkeiten aus dem Kohlenkeller abzutun.“

Helen Hessels amüsante und zugleich analysierende Artikel aus Paris räumten mit dem Vorurteil auf, Texte über Mode enthielten oberflächliches Geschwätz und brachten ihr große Wertschätzung ein. Theodor Adorno etwa riet Walter Benjamin, er möge bezüglich modischer Details in seinem „Passagen-Werk“ Frau Hessel zu Rate ziehen, „deren Berichte in der Frankfurter Zeitung wir stets mit großem Interesse verfolgen.“ Doch mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus geriet sie in Deutschland zunehmend unter Druck. Ihr emanzipierter Blick auf die Rolle der Frau missfiel den neuen Machthabern. Als ihre Publikationsmöglichkeiten aufgrund ihrer Ehe mit einem Juden eingeschränkt worden waren, ließ sie sich 1936, dieses Mal allerdings pro forma, von Franz Hessel scheiden, um weiter für deutsche Blätter arbeiten und das Familieneinkommen sichern zu können. Doch wegen mangelnder Regimetreue bekam sie die Kündigung der Frankfurter Zeitung. 1938 erschien ihr letzter Artikel in der Zeitschrift „Die Dame“. Nachdem sie am 9. November 1938 in Berlin Zeugin der Pogrome geworden war, verließ sie Deutschland. Franz Hessel hatte schon seit dem Erlass der Nürnberger Gesetze im Jahr 1935 keine Verdienstmöglichkeiten mehr in Deutschland gehabt. Helen drängte ihn, das Land zu verlassen, was er zunächst ablehnte. Daraufhin besorgte sie die benötigten Dokumente und schaffte es, ihren Mann ohne gültigen Reisepass nach Paris zu bringen. Die Hessels zogen mit ihren Söhnen in eine kleine Wohnung, zum ersten Mal ohne Dienstboten und ohne Geld. Nach dem Ausbruch des Krieges und dem Einmarsch der deutschen Truppen in Frankreich fuhr Helen ihre Familie in ihrem Auto Richtung Süden. In Sanary-sur-Mer, wo sie früher oft den Sommer verbracht hatten und wo sich jetzt immer mehr deutsche Schriftsteller einfanden, um sich vor dem Nationalsozialismus zu retten, fand sie eine bescheidene Unterkunft. Nachdem Frankreich von den deutschen Armeen besetzt worden war, wurden Franz und Ulrich Hessel in Südfrankreich festgenommen und einige Monate inhaftiert. Um selbst nicht verhaftet zu werden, setzte Helen alles auf eine Karte. Sie stellte sich dem französischen Dorfpolizisten entgegen. Splitternackt. Angesichts eines drohenden Skandals ließ der verdutzte Gendarm davon ab, sie mitzunehmen.

Nach dem Krieg: Ein schwieriger Neubeginn

Franz Hessel war im Internierungslager an der Ruhr erkrankt. Er starb 1941 kurz nach seiner Entlassung an den Folgen seiner Haft. Helen Hessel blieb bis zum Kriegsende in Südfrankreich im Untergrund. Der Fluchtweg zu Fuß über die Pyrenäen blieb für sie und für ihren halbseitig gelähmten älteren Sohn ausgeschlossen. Inzwischen war sie stark beeinträchtigt durch eine Hüftarthrose und musste einen Gehstock benutzen, doch unterstützte sie die Résistence durch kleinere Botengänge. 1947 erhielt sie, endlich! nach 15 Jahren vergeblicher Anträge, die französische Staatsbürgerschaft. Ohne Erfolg versuchte sie, an ihre journalistische Karriere anzuknüpfen. Sie verfasste in ihrer Muttersprache ein Drama über den 2. Weltkrieg, bot es Verlagen und Theaterregisseuren an, doch niemand wagte sich an das Stück einer inzwischen Unbekannten. Nach einem Suizidversuch lud ihr Sohn Stefan, jetzt Stéphane und französischer Diplomat bei der UNO, sie ein, bei sich und seiner Familie in New York zu leben.

Voller Hoffnungen reiste Helen auf einem Frachtschiff über den Atlantik in das Land der Dollarprinzessinnen. Sie war jetzt 61 Jahre alt, völlig mittellos, brauchte eine neue Brille, neue Zähne, einen neuen Wintermantel. Im Apartment ihres Sohnes auf der Upper West Side in Manhatten bezog sie ein Zimmer. Doch in New York hatte außer ihrem Sohn niemand auf sie gewartet. Schreibaufträge blieben aus. Schon nach wenigen Wochen musste sie sich eingestehen: „Ich bin zu alt, zu wenig eingeweiht, zu wenig dekorativ, um in diesem Kreis auch nur die leiseste Chance zu haben, irgend jemandem zu gefallen.“ Da sie sich nicht mit ihrer Schwiegertochter verstand und den häuslichen Frieden durch ihr undiplomatisches Verhalten in Gefahr brachte, schlug Stephane ihr vor, sie nach Frankreich zurückzubringen. Doch so schnell aufgeben wollte sie nicht. Sie ging nach Los Angeles, in die Stadt, in der sich Thomas Mann und Marlene Dietrich niedergelassen hatten. Ihrem Sohn Ulrich schrieb sie: „Siehst du, ich möchte housekeeper sein oder so was bei ulkigen Stars und in das Milieu hineinsehen. Amerikaner haben keine Ahnung von guter Küche, keine Ahnung von dieser Sorgfalt mit Dingen und Blumen und Gedecken, die ein harmonisches Zuhause ausmachen. Sie haben keinen Geschmack, keinen Sinn für das Gratisgewese, das, was nichts einbringt, ich meine den Unterbau an ordnender Liebe für das Schöne.“ Sie suchte die Zeitungen nach Jobs ab, war mal Haushaltshilfe, mal Chauffeurin und sogar Putzfrau, doch sie vermochte nicht, Fuß zu fassen. Nach 15 Monaten stellte sie fest: „Was tu ich hier? Der große „Coup“ ist mir nicht gelungen. Ich habe nichts geschrieben, hab nicht einmal versucht, einen Posten in Stanford zu bekommen. Für die „Stellungen“ bin ich etwas zu alt und etwas lahm und etwas eigenwillig wahrscheinlich. Es ist nicht geglückt.“ Bei einem Autounfall kollidierte ihr Wagen mit einem Güterzug. Sie überlebte den Unfall mit einem mehrfachen Beinbruch. Daraufhin buchte Stephan zwei Passagen auf einem Passagierschiff und brachte seine Mutter zurück nach Europa.

Dort fand sie zurück zu ihrer alten Kraft und hatte ein aktives und geselliges Alter, das in dieser Form nicht vielen Menschen vergönnt ist. In Paris wurde sie bereits erwartet. Von ihrer Freundin Anne-Marie Uhde, der Schwester des Sammlers und Kunsthändlers Wilhelm Uhde, in deren Wohnung im 14. Arrondissement sie einzog und wo sie die kommenden 30 Jahre bis zu ihrem Lebensende blieb. Mit 73 Jahren übertrug ihr der Rowolth-Verlags den Auftrag zur ersten deutschen Übersetzung von Nabokovs „Lolita“. Sie reiste nach Florenz, Venedig und London. Sie führte ein offenes Haus. Tagein, tagaus trug sie Weiß, diese Farbe, die wie keine andere ihre Trägerin von allen anderen unterscheidet. Sie leuchtete schon von Weitem. Als 1962 „Jules und Jim“ mit Jeanne Moreau in der Hauptrolle in den Kinos anlief, saß sie unerkannt in der Premiere. Der Film und sein Regisseur gefielen ihr. Es heißt, sie habe sich in Truffaut verliebt, doch er habe es vermieden, sie zu treffen. Aber sie schrieb ihm, und es entwickelte sich eine längere Korrespondenz. Auf die Magie ihrer Sprache konnte sie sich immer noch verlassen. Sie wurde 96 Jahre alt. Bis zuletzt rauchte sie Gauloise Caporal, filterlos.

Die Pionierin des deutschen Modejournalismus wurde im Grab Wilhelm und Anne Marie Uhdes auf dem Friedhof Montparnasse beigesetzt.

 

Anmerkung:

Helen Hessels ältester Sohn Ulrich (1914-?) hatte 1933 in Salem sein Abitur abgelegt. Nach dem Krieg arbeitete als Archivar im Jüdischen Dokumentationszentrum in Paris.

Stephane Hessel (1917-2013) nannte sich nach seiner Einbürgerung Stéphane. Er war Absolvent der École Normale, Résistence-Kämpfer, überlebte das KZ Buchenwald und arbeitete als französischer Diplomat bei der UNO. Er war Mitverfasser der Charta der Menschenrechte und einer der einflussreichsten Intellektuellen Frankreichs. Mit 93 Jahren verfasste er die Streitschrift „Empört Euch!“, in der er zum Handeln gegen die durch ungleichmäßig verteiltes Geld enthemmte Welt aufruft. Die nur 15 Seiten umfassende Broschüre wurde in 40 Sprachen übersetzt und erzielte weltweit Aufmerksamkeit. Dem UNO-Botschafter und Verteidiger der Menschenrechte zu Ehren wurde 2013 in der Nähe des Friedhofs Montparnasse in Paris der „Place Stéphane Hessel“ benannt.

 

Textgrundlage:
Marie-Francois Peteuil: Helen Hessel. Die Frau, die Jules und Jim liebte. Eine Biographie. Schöffling & Co 2013.
Helen Hessel: Ich schreibe aus Paris. Über das Leben, die Liebe und die Mode. Nimbus 2016.

Eine gekürzte Version des Textes erschien im Februar 2023 in der Wiener Zeitschrift SEIN Magazin.

Teilen:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.