Louise Nevelson: Drei Lagen künstliche Wimpern aus Zobel

Louise Nevelson

Eine ordentliche Dosis Glamour ist im Leben wie in der Kunst nie verkehrt. Die Geschichte der amerikanischen Bildhauerin Louise Nevelson ist in dieser Hinsicht sehr vielversprechend. Sie war die Hohepriesterin des großen Auftritts. Ihre Empfehlung lautete, eine Frau solle niemals einen Raum betreten, ohne so viel Aufmerksamkeit wie möglich zu erzielen. Frauen hatten nach ihrer Überzeugung ein natürliches Recht auf Extravaganz und Genuss. Waschbär, Rotfuchs, Polarfuchs, Persianer, Nerz, russischer Zobel, Chinchilla – sie wollte immer alles haben. „Es mag Leute geben, die nicht so viel vom Leben verlangen wie ich“, erklärte sie in ihrer Autobiographie, „Aber ich wollte alles, von dem ich dachte, es gehört zu mir. Ich wollte die ganze Show. Das bedeutet Leben für mich.“

Geboren wurde sie in einem Shtetl in der Nähe von Kiew in der Ukraine. Sie war 6 Jahre alt, als sie nach Rockland, Maine kam. Louise, damals noch Leah Berliawsky und ihre Schwestern, Vater Isaac, Mutter Minna Zeisel Smoleransk. „Juden! Juden!“, riefen die Kinder der Yankees hinter den Emigranten her. Ihre Mutter wurde von Heimweh und Depressionen geplagt, doch wenn sie das Haus verließ, putzte sie sich auf. In die Leibwäsche ihrer drei Töchter bügelte sie Hohlfalten mit dem kleinen Plätteisen. Behutsam zog sie die feinen Leinenfäden, um ihre Taschentücher mit Hohlsaum zu verzieren. Sie bestickte ihre weißen Schürzen und flocht ihnen bunte Seidenbänder ins Haar. „Meine Eltern waren Außenseiter. Ich war eine Außenseiterin. Ich wollte eine Außenseiterin sein und ich wusste, welchen Vorteil ich davon hatte.“ Kleidung dient der selbstbewussten Louise, die schon früh weiß, dass sie Künstlerin werden will, von klein auf als Ausdruck ihrer Differenz. Mit 14 Jahren kaufte sie sich bei Woolworth eine Hutform und Leinen. Sie drapierte den Stoff in Falten um die Form, schnitt Schablonen in Schmetterlingsform aus, bemalte sie und nähte sie auf den Hut. Fortan trug sie ihn jeden Tag bis zum Ende ihrer Schulzeit. Ein Foto aus dem Jahr 1916 zeigt Louise im Kreis ihrer Mitschülerinnen. Ihre Augen sind schwarz wie glühender Teer. Ihre Haut ist nicht milchig weiß wie die der anderen; sie ist dunkler, klarer. Sie blickt kühl in die Kamera, sie ist hoch gewachsen. Sie überragte die anderen Mädchen. So wie auch die meisten Männer, körperlich und geistig. Auch Charles Nevelson, den dicklichen, kahlköpfigen, jüdischen Reeder aus New York, 20 Jahre älter als sie.

Nevelson nahm sie mit nach Manhattan. Sie heiratete in einem Spitzenkleid, dessen Saum ein paar Zentimeter über den Fesseln endete, und einem großen Hut aus weißer und rosa Spitze. Er hatte unglaubliche 100 Dollar gekostet. Mit 20 Jahren wurde sie zu Mrs. Charles Nevelson, einer privilegierten Dame, die mit weißen Handschuhen auf Bridgeparties und in Cabriolets herumsaß – und sich langweilte. Schnell erkannte sie, dass ihr Mann sich zwar kultiviert gab, jedoch ein eher konventioneller Mensch war. „Er wollte eine Frau, aber er bekam eine Künstlerin“, kommentierte später Louises Schwester Anita. Nevelson dachte und kleidete sich konservativ. Immer öfter bestand er darauf, dass sie sich umzog, bevor sie mit ihm ausging oder die Kleider, die er als zu extravagant betrachtete, ins Geschäft zurückbrachte. Sein Verhalten färbte auf ihren kleinen Sohn Mike ab, der häufig einige Schritte hinter ihr herging, um nicht mit der exzentrischen Frau in dem bodenlangen, pelzbesetzten Mantel in Verbindung gebracht zu werden, über die die Passanten abfällige Bemerkungen machten. 1931 verließ sie ihren Mann, packte einen kleinen Koffer, brachte ihren Sohn zu ihren Eltern nach Maine und fuhr allein und mit leichtem Gepäck nach Europa, um in München im Atelier des Malers Hans Hofmann zu studieren. Er galt als der beste Lehrer der Welt. Ein in München aufgenommenes Porträt von Louise belegt ihre Befreiung aus der engen Welt der Familie ihres Mannes. Zu einem extravaganten Pelerinenkleid aus heller Seide trägt sie ein zum Turban gebundenes Tuch. Sie hat kleine Kreolen und eine überlang Kette aus kunstvoll verzierten Holzquadern angelegt. Ihre Lippen sind dunkelrot geschminkt. Sie sieht frei aus und ungemein attraktiv.

Bei ihrer Rückkehr nach New York war sie 30 Jahre alt, geschieden und mittellos. Anfangs hauste sie in Manhattan in billigen Pensionen und hatte oft nichts zu essen, aber sie war entschlossen, fortan als Bildhauerin zu arbeiten. Schon bald war sie in den Künstlerkreisen der Stadt bekannt und Fotos von ihren skurrilen Auftritten erschienen in den Klatschspalten der Zeitungen. Nevelson durchbrach die herrschende Auffassung, dass Künstlerinnen sich nach dem Vorbild Georgia O´Keeffes betont schlicht oder gar ärmlich zu kleiden hätten und sich keinesfalls zu sehr für ihr Äußeres interessieren sollten. Sie schwang sich ein buntes Tischtuch als Rock um die Taille, trug ein mit Spitze benähtes Bettlaken als Kleid oder ging mit einer griechischen Volkstracht über die Fifth Avenue. 1934 gab ihr Sohn Mike einen Wunsch ihrer schockierten Mutter an sie weiter, seine Großmutter hoffe, Louise kleide sich „wie ein Mensch“, wenn sie nach Hause komme. Die Mutter musste sich nicht sorgen, denn Louise spielte virtuos auf der Bekleidungsklaviatur. Zu Parties bei einflussreichen Sammlern erschien sie, ob eingeladen oder nicht, mit grandios großen Hüten, farblich passenden Kostümen und eleganten Nerzstolen. Als ihre Freundin Alice Neel sie fragte, wie sie sich so ein neues, teures Outfit leisten könne, antwortete sie: „Fucking, dear, fucking.“ Sie hatte jede Menge Affären. Ihre Angel warf sie in den Salons der High Society oder in der Lobby des Hotels Astor aus. Jahre später bekannte sie, dass sie im Gefängnis landen würde, wenn sie verriete, wie sie durch ihre Anfangszeit als Bildhauerin gekommen sei. „Nur so konnte sie als Künstlerin überleben“, erklärte Alice Neel dazu.

Dank der finanziellen Unterstützung ihrer Familie und einiger Freunde konnte sie 1945 ein heruntergekommenes, 70 Jahre altes Haus auf der Lower East Side erwerben. Es war klein und dunkel, aber es umfasste 4 Stockwerke und einen Hinterhof. Die 1. Etage nutzte Nevelson als Ausstellungsfläche und zum Feiern. Es gab kaum Einrichtung, nur drei Garnituren Gartenmöbel, einen Plattenspieler und ihre Jazz-Platten und Bücher. Eigentlich war sie keine Gastgeberin, aber sie feierte gern. Sie schminkte sich wie ein Bild von Picasso, ein Auge grün, ein Auge blau, der Mund orangerot. Wein trank man aus Marmeladengläsern. Die Suppe kam aus der Konserve und wurde kalt serviert. Es sei denn, sie hatte eine Arbeit beendet und verkauft. Dann nahm sie sich Zeit und tischte auf: Fetakäse, Blinis und Kaviar, Hering in allen Variationen, Borschtsch, gebratene Lammhaxen, Scotch und Gin bis zum Abwinken. Gegen den Kater am nächsten Morgen aß sie frischen Knoblauch und frische Zwiebeln.

Louise Nevelson bezeichnete sich als „Arbeitspferd“. Frühmorgens ab 3 Uhr zog sie mit einem Karren durch die Straßen Manhattens, um wie ein Lumpensammler Gegenstände zusammen zu tragen, die sie für ihre Collagen verwenden wollte. Sie arbeitete hart und kontinuierlich und betont in ihren Memoiren, dass es keinen Tag in ihrem Leben gegeben habe, an dem sie nicht gern in ihr Atelier gegangen sei. Sie glaubte an sich, doch das bedeutete nicht, dass irgendjemand sonst in der Kunstwelt an sie glaubte. Sie war jetzt fast 42, eine kraftvolle, stattliche Schönheit, die sich auf ihr Aussehen verlassen konnte und bereit war, jeden Preis zu zahlen, um endlich die Anerkennung für ihre Arbeit zu bekommen, die ihr zustand. Sie wusste genau, was sie tat. Sie zog sich ein enges Kostüm und Pumps an. Sie ging zu dem Galeristen Karl Nierendorf und erklärte dem verblüfften Mann frei heraus, er solle sie ausstellen. Er kenne weder sie noch ihre Arbeit, druckste er verlegen herum. Da ging sie langsam, sehr langsam zu seinem Tisch, nahm darauf Platz, schlug gekonnt die Beine übereinander und hauchte ihr Angebot. Sie werde ihm ihre Kunst persönlich in ihrem Atelier zeigen. Nierendorf schmolz dahin, die Ausstellung fand statt. Allmählich folgten weitere, das Whitney Museum of American Art ihr eine Retrospektive ein, öffentliche Aufträge gingen ein und brachten Ruhm und Wohlstand.

Louise Nevelson gehörte zu den Frauen, die mit dem Alter hadern. In ihrer Autobiographie bekannte sie: „ An diesem Punkt meines Lebens muss ich sagen, dass die Natur ihren Preis hat. Ich muss vielleicht keinen ökonomischen Kampf ausfechten, so wie ich das 30 oder 40 Jahre lang tun musste, aber ich muss jenseits der 70 einen Kampf gegen die Natur führen. … Es gibt kein Material auf der Erde, ob es Stahl ist oder Stein, das immer so bleibt, wie es ist. Am Ende muss alles auf der Welt zerfallen. Am Anfang gibt es ein Versprechen. Die Zähne werden stärker, der Körper wird stärker und dann, wenn alles richtig funktioniert, wird es zerstört und zerstört und zerstört.“ Ihr Haar ergraute, verlor seinen Glanz und wurde dünner. Ihr Ausdruck war jetzt manchmal müde, fahl und angespannt, ihr Gesicht verlor die Konturen. Wenn sie Fotos von sich betrachtete, sah sie eine alte Frau. Ein Eingriff mit dem Skalpell kam nicht in Frage. Auch Make-up war keine Option, damit sah man aus wie einbalsamiert. Sie fand es schlichtweg ungerecht, dass eine Frau mit den Jahren ihre Ausstrahlung verlor! Es war nicht hinzunehmen! Sie erinnerte sich an den Schauspielunterricht, den sie als junge Ehefrau genossen hatte, und begann, mit dramatischen Kopfbedeckungen zu experimentieren: Großer, schwarzer Strohhut zum Abendkleid, Cowboyhut zu langem Ohrschmuck, Jockeykappe über Hermès-Tuch. Sie ging zur Drogerie in der 56. Straße in Manhatten und kaufte sich Kajalstifte und Wimpern. Die längsten Wimpern, die sie je gesehen hatte. Es waren Gänsedaunen, acht Zentimeter lang. Natürlich hätte man sie auf eine passable Länge kürzen sollen, aber das tat sie nicht. Später trug sie Wimpern aus Zobel, immer mindestens zwei Paare übereinander. Ihre Augen rahmte sie mit einem balkenartigen Lidstrich ein. „Ich mag das und es ist dramatisch, also warum nicht?“ sagte sie dazu. Es betonte ihr Gesicht. Es gab ihr einen Fokus. Ohne ihre künstlichen Wimpern fühlte sie sich nicht mehr angezogen.

Ihre umfangreiche Garderobe bewahrte sie, sorgsam gepflegt und geordnet, in Schränken auf, die die gesamte Wand ihres langgezogenen Brownstone-Gebäudes einnahmen. Sie kaufte vor allem auf Flohmärkten, denn sie erkannte – auch in der Kleidung – den Wert und die Schönheit in dem, was andere als Abfall betrachteten. Ihr Thema war die Collage, in der Kunst wie in ihrer Kleidung. An jedem Morgen stellte sie ihre Garderobe neu zusammen und verwandelte sich selbst in eine Collage. Die Energien und den Flow ihres morgendlichen Ankleideprozesses nahm sie aus dem Ankleidezimmer mit in ihr Atelier, wo sie weiter daran arbeitete, Holzfundstücke zu immer neuen Formen zusammen zu fügen. Ohne Scheu vor zu viel Gepränge folgte sie ihrem Bedürfnis, sich zu schmücken und kombinierte das, was ihr persönlich gefiel. Sie kombinierte Haute Couture, Trachten, Flohmarktfunde und schweren Schmuck. Immer bunt, immer kühn und voller Ausdruck. Zur Eröffnung der Retrospektive ihres Werkes im Whitney Museum im Jahr 1967 legte sie sich zwei purpurfarbene japanische Wandbehänge aus Seide um die Schultern. Jeder war mit einem weißen Kranich, grauen Zweigen und rosa Kirschblüten bestickt. Darunter trug sie eine bestickte Bauernbluse und einen langen mexikanischen Rock. Ihr Kopfschmuck bestand aus einer türkisfarbenen Damast-Serviette, aus der sie einen Turban gebunden hatte. Eine Kette aus Eberzähnen ergänzte das verschwenderische Spektakel. Die internationale Kunstwelt goutierte ihre Auftritte. Wohlhabenden Sammler zückten die Scheckbücher und trugen fünfstellige Beträge ein. Die Bildhauerin wurde noch berühmter. Ihr Name landete auf den internationalen Best dressed-Listen, Richard Avedon fotografierte die 70jährige Bildhauerin für die amerikanische Vogue. Das war ganz nach ihrem Geschmack. „Wenn ich der Star bin, langweile ich mich nicht.“, rief sie an einer langen Zigarre rauchend in die Runde. Doch im Mittelpunkt ihres Lebens stand weiterhin nur eines: die Kunst. Dies belegt auch ihr Entschluss, sich mit 76 Jahren ihre schweren Brüste amputieren zu lassen. Sie störten sie bei der Arbeit.

Am Ende ihres Lebens zog Louise Nevelson folgende Bilanz: „Ich bin eine Außenseiterin, weil ich niemandem erlauben würde, mich zu stören. Das ist der Preis, den man für die Freiheit bezahlt.“ Die Frage, ob sie Angst vor dem Tod habe, verneinte sie. Sie glaube nicht an Wiedergeburt, aber falls sie doch wiedergeboren werden sollte, dann am liebsten als Louise Nevelson.

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