Niki de Saint Phalle: Federjacke und Schwarzwaldmädelhut

Niki de Saint PhalleEine Vernissage in einer Pariser Galerie, bei der man gerne Gast gewesen wäre. Das Publikum wartet lange auf das Entrée der Künstlerin. Da betritt sie den Raum, nein, sie schwebt hinein. Sie ist Mitte 20, eine schöne, junge Frau in kniehohen, schwarzen Lederstiefeln. Sie trägt einen weißen Overall mit Steghosen und schwarzen Stehkragen und schwarzen Bündchen. Vor ihr stehen aus Gips gefertigte Köpfe von Politikern, sie hat diese Reliefs selbst hergestellt und mit Farbe gefüllte Plastikbeutel in sie eingearbeitet. Sie legt langsam ein Gewehr an, sie hat es sich an einer Schießbude auf dem Rummelplatz geliehen, und feuert damit auf die Köpfe. Päng! Smaragdgrün, Orange, Dunkelblau und leuchtendes Pink tropfen aus den Einschusslöchern. Sie färben die schneeweißen Köpfe, die aussehen, als würden ihre Eingeweide aus ihnen heraustreten und sie vor den Augen des Publikums verbluten.

Die verstörende Kunstaktion macht Niki de Saint Phalle (1933-2002) über Nacht zum It-Girl der Pariser Kunstszene. Die Kunstwelt erkennt die Aufrichtigkeit und Wut, mit der sie ihre persönlichen Gefühle über privilegierte, aber stark belastete Kindheit zum Thema ihrer Arbeiten macht, und ist berührt. Die Tochter einer amerikanischen Erbin und eines adligen französischen Bankiers wurde nach der Geburt bei Verwandten auf den Schlössern ihrer väterlichen Familie „geparkt“ und von Kindermädchen betreut. Erst als sie 3 Jahre alt ist, holen die Eltern sie zu sich auf die Upper East Side nach New York. Mit 70 Jahren bricht sie ihr Schweigen über ihre strenge Erziehung in Klosterschulen und das Trauma des wiederholten sexuellen Missbrauchs durch ihren Vater. Sie schreibt in ihrem Buch „Mon secret“. „Es waren Familiengeheimnisse, ich konnte sie niemandem erzählen. Sie stellten mich außerhalb der Gesellschaft. Ich war intelligent genug, nicht darüber zu sprechen. Man hätte mich nur als Lügnerin bezeichnet“.

Niki de Saint Phalle rebelliert früh gegen die konservativen Rollenmuster der Fünfzigerjahre. Zu ihrer schönen, aber gefühlskalten Mutter hat sie ein Leben lang ein schwieriges Verhältnis. „Meine Mutter hatte einen Schrank mit Bettwäsche. Ich erinnere mich, wie ich ihr beim Einräumen zusah und zu ihr sagte: Das werde ich nie machen, wenn ich groß bin. Ich werde niemals die Bettwäsche zählen. Sie gab mir eine Ohrfeige.“

Mit 17 flieht sie mit einem jungen Dichter, wie sie Kind wohlhabender Eltern von der Upper East Side, von zu Hause, ohne die geringste Ahnung, was aus ihr werden könnte. Beide sind 18, als sie heiraten und bald darauf Eltern einer Tochter werden. 1950 ziehen sie gemeinsam nach Frankreich. Um das Geld für den Lebensunterhalt ihrer Familie zu verdienen, beginnt sie eine Karriere als Fotomodell. Sie erscheint auf den Titelbildern von Life und Vogue. Doch das fremdbestimmte Posieren liegt ihr nicht. Als ihr Mann sie aus Eifersucht misshandelt, trennt sie sich, geschockt und verunsichert. Wo will sie hin? Sie weiß es nicht. Das Trauma ihrer Kindheit holt sie wieder ein. Aufgrund von Depressionen wird sie in eine psychiatrische Klinik eingewiesen und, wie damals üblich, mit Elektroschocks behandelt.

In dieser schwierigen Lebensphase entdeckt sie die Malerei für sich. Sie wird für sie zu einer lebensrettenden Passion. De Saint Phalle entscheidet sich, Künstlerin zu werden, ohne eine Kunstschule zu besuchen oder Kunstgeschichte zu studieren. Sie folgt ihrer Intuition. 1956 begegnet sie dem Schweizer Bildhauer Jean Tinguely. Ein Mann aus einer anderen Welt. „Ich glaube, ich habe mich an dem Abend in Jean verliebt, als er mich zum Essen eingeladen und seine Zigarette im Butterfass ausgemacht hat. Aus dem Milieu, aus dem ich kam, konnte ich nicht anders als fasziniert zu sein von der gänzlichen Abwesenheit sozialer Tabus.“ Sie lässt ihre zwei Kinder bei deren Vater zurück und zieht zu Tinguely in den Impasse de Ronsin, eine Künstlersiedlung. Sie lebt in einem Schuppen ohne Badezimmer. Doch wenn sie vor die Tür geht, steht sie in einem Garten, mitten in Paris. In der distinktionssüchtigen Welt der Kunst werden Tinguely und Niki de Saint Phalle schon bald zu einem höchst glamourösen Paar. Trotz Spannungen und mehrerer Trennungen werden sie ein Leben lang eng verbunden bleiben.

Die Künstlerin experimentiert mit ihrer Kleidung, ohne Angst, möglicherweise daneben zu liegen, und entwickelt ihren eigenen Stilkompass. Die Feministin Gloria Steinem berichtet nach einer Begegnung: „Sie hatte einen Cowboyhut und Cowboystiefel an und trug keine Handtasche. Ich dachte: Sie ist die erste befreite Frau, der ich je begegnet bin. Ich möchte sein wie sie.“ Bei de Saint Phalle gibt es immer Beides: konservative Eleganz, mit der sie als französische Adlige aufwuchs, und schwelgerische Bohème. Dazu ganz viel Humor, der ihren Looks Eigenwilligkeit verleiht. Auf Flohmärkten und in Charity Shops findet sie in den Bergen von abgelegter Kleidung originelle Federjacken und immer wieder Hüte, die sie bei der Arbeit in ihrem Atelier trägt. Darunter einen altrosa Pelzhut, so groß wie ein Schwarzwaldmädelhut und einen aus der Zeit gefallenen Federhut in der Größe eines Wagenrads.

Eines Nachts hat sie einen Traum. Sie sieht eine Frau, enorm groß, mit prallen Brüsten und ausladendem Po, lustvoll, bunt, doch ohne Gesicht. „.Sie ist befreit von all dem Blödsinn. Ehe, Sentimentalität, Masochismus. Sie ist einfach sie selbst. Sie ist nicht unterdrückt. Sie braucht absolut keinen Mann. Sie kommt ganz allein zurecht. Sie ist unabhängig. Sie ist fröhlich.“ In diesem Moment sind die Nanas geboren, die die internationale Bekanntheit der Künstlerin begründen, ein großer kommerzieller Erfolg werden und bis heute als das Markenzeichen der Künstlerin gelten. Die scheinbar harmlosen9l.ll.l..ll, kraftvollen Skulpturen stehen für eine weibliche Welt, die weiblichen Rollenbilder hinteirfragt und im Verlauf der Jahre größer und größer wird.
1966 erweitert Niki de Saint Phalle, unterstützt von Jean Tinguely, ihr künstlerisches Spektrum. Im Moderna Muset in Stockholm kreiert sie ihre größte und spektakulärste Nana. Die auf dem Rücken liegende Monumentalskulptur ist begehbar. Nicht nur ihre Größe, sie misst 28 Metern in der Länge, 9 Meter in der Breite und 6 Meter in der Höhe ist ein Tabubruch. Museumsbesucher müssen sie durch einen provokativen Eingang betreten, ihre Vagina. Im Inneren erwartet sie ein interaktiver Spielplatz. In der einen Brust befindet sich eine Milchbar, in der anderen ein Planetarium und im Körper ein kleines Kino mit Sofa. Eine Treppe führt durch ihren Bauch auf eine Aussichtsplattform.

1982 erteilt die Stadt Paris Tinguely den Auftrag zu einer Igor Strawinsky gewidmeten Brunnenanlage neben dem Centre Pompidou, den er gemeinsam mit Niki de Saint Phalle ausführt. Die Künstlerin arbeitet überwiegend plastisch, fertigt aber auch Künstlerbücher und Zeichnungen an, deren Kennzeichen von ihr mit der Hand geschriebene Texte und fröhlich-bunte Figuren mit tiefgründigem Hintergrund sind. Sie stellt darin Fragen wie „My love where shall we make love?“ und gibt viel Persönliches preis.

Ihr größtes Projekt verwirklicht sie mit einem extravaganten Skulpturengarten in Capalbio in der Toskana. Insgesamt 20 Jahre arbeitet sie an diesem Lebenstraum. Gemeinsam mit Tinguely bestückt sie ihn mit großen, an Tarot-Karten angelehnte, mit Spiegelmosaiken verkleidete, große Plastiken. Doch deren Material, hochgiftiges Polyester-Kunstharz, gefährdet die Gesundheit der Künstlerin. Sie leidet schließlich unter einem Lungenemphysem. Nach Tinguelys Tod verschlechtert sich ihr Gesundheitszustand. Sie zieht nach San Diego in Südkalifornien, das für sein mildes Klima bekannt ist. Dort ist Niki de Saint Phalle, Stilikone und eine der populärsten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts, am 21. Mai 2002 verstorben.

Der Artikel erschien auch im SEIN Magazin Ausgabe März 2023.

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